Herzlich willkommen.

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Ich war, ich bin, ich werde sein.
Ferdinand Freiligrath

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Marc Kayser in Moskau bei der Beerdigung (3. März 2015) des am 27. Februar 2015 bei einen Attentat ums Leben gekommenen, russischen Oppositionspolitikers Boris Jefimowitsch Nemzow und dem anschliessenden Protestmarsch durch die Moskauer Innenstadt (Quelle: ARTE, ARD)

Reden ist unser Privileg. Wenn wir ein Problem haben, das wir nicht durch Reden lösen können, dann hat alles keinen Sinn. Deshalb zu sagen was ist, bleibt die revolutionärste Tat.
Rosa Luxemburg

Die Süddeutsche Zeitung und DIE ZEIT waren die für mich als Zeitungsjournalist die wichtigsten und prägendsten Stationen.

“Ich habe einen Traum“ – Heidi Klum im ZEIT-Interview (25.11.2004) mit Marc Kayser

Heidi Klum, damals 31, geboren in Bergisch-Gladbach, war und ist das erfolgreichste deutsche Model. Als Schülerin gewann sie einen Wettbewerb, nach dem Abitur zog sie nach New York und wurde durch ein Titelbild auf der „Sports Illustrated“ bekannt. Heidi Klum lebt in den USA. Hier träumt sie davon, ihre Träume nicht zu verlieren.

Von  Marc Kayser – Als man mich fragte, ob mir ein Traum einfiele, erinnerte ich mich daran, wie ich als junges Mädchen meine Fantasien in Kleidungsstücke hinein webte und hoffte, jemand würde bemerken, dass ich nicht nur nähte, sondern auch etwas erfand. Pailletten in verschiedenen Farben, funkelnde Strasssteine und gerade und schräge Schnitte sollten aus meinen Entwürfen immer etwas Besonderes machen, sollten anderen auffallen und zeigen, dass die Näherei eine Kunst sein kann. Träume sind etwas Kunstvolles, sind Gespinste, so leicht wie Chiffon, und sie haben die Fähigkeit, dahinzuwehen wie Seidenschals im Wind.

Ich gehe durch mein Leben mit erhobenem Kopf, um den ich mir – für andere unsichtbar – Tücher binde, aus diesem leichten Traumstoff, der, wenn er mich berührt, die heiße Stirn kühlt. Das kann Seide auch: kühlen, wenn es warm ist, und wärmen, wenn Wind weht. Als Näherin wollte ich hoch hinaus. In jede Naht verwebte ich Traum-Moleküle, von denen ich hoffte, sie würden mich auf den Olymp einer gefeierten Modedesignerin heben.

Doch die Realität sieht anders aus. Ich lebe wie in einem goldenen Ei, aus dem ich immer dann herausschlüpfe, wenn mir Termine sagen: Heidi, das ist jetzt gut und notwendig für dich. Leider sind das tägliche Termine, manchmal ein ganzer Strauß, der am Ende nicht mehr duftet, sondern streng zu riechen beginnt.

Die Welt kennt mein Gesicht. Sie liegt richtig mit der Vermutung, ich würde viel Geld damit verdienen. Die Presse hat Recht, wenn sie schreibt, ich sei gerade glücklich mit einem Mann, stolz auf meine Tochter und verliebt in meine Eltern. Ich werde getragen von Anerkennung, Achtung, Glück und der Sympathie vieler Menschen. Amerika, Europa, Asien: Titelbilder erzählen die immergleiche Geschichte von meinen Haaren, meinen Augen, meiner Nase und meinem Mund. Was die Titelbilder, Titelgeschichten und Autoren nicht erzählen: Ich habe keine Zeit. Ich bin das Opfer des Menschen Heidi Klum, ich bin zu einem Produkt geworden, das stets gehegt und umworben werden will.

Über mich selbst, über mein eigenes Leben habe ich noch nicht viel herausgefunden. Ich bemerke, wie leicht es mir fällt, Erfolg zu haben und zu genießen, was um mich herum und mit mir geschieht.

Ich bin auf der Sonnenseite des Lebens, möchte auch gar nichts anderes behaupten, und manchmal fürchte ich mich davor, mir Fragen zu stellen wie: Vermisse ich etwas? Geht es mir zu gut? Was wäre, wenn ich plötzlich eine schwere Krankheit hätte? Was müsste man lesen, was einen weiterbringt? Bin ich politisch?

Es träumen immer jene, die sich nach etwas sehnen, habe ich einmal gelesen. Wonach ich mich sehnte, das habe ich bekommen: Man sagt, ich sei schön, erfolgreich und um mein Glück zu beneiden. Darf man Träume haben, wenn man so glücklich ist wie ich?

Träume zu haben bedeutet, über sich selbst nachgedacht, sich selbst erkannt zu haben. Habe ich das? Der Alltag ist der Feind des Nachdenkens, denn er ist ein Dieb von Zeit. Ich träume davon, meine Träume nicht zu verlieren.

Als Paillettennäherin habe ich im Traum nicht geglaubt, einmal sagen zu müssen, dass mir meine Träume abhanden zu gehen drohen. Ich hätte nie gedacht, dass mir die Zeit für die natürlichsten Dinge der Welt fehlen würde. 
Für Freunde kochen. 
Mit Freunden ausgehen. 
Mir ein Kleid nähen. 
Mit meiner Tochter Leni in den Zoo gehen. 
Einfach gemütlich im Bett liegen bleiben, wenn ich eigentlich aufstehen müsste.

Nimm dir doch Zeit, Heidi!, höre ich die Menschen rufen. Arbeite doch weniger! Du hast es in der Hand! Bemitleide dich doch nicht selbst! Genieße deinen Erfolg und jammere nicht! Aber so einfach ist das nicht, Herrschaften! Erfolg muss man erhalten, denn er ist wie ein gefräßiges Tier, stets auf der Suche nach Nahrung. Fliegen um die Welt – obwohl ich Flugangst habe. Immer lächeln, immer schön sein, niemals fluchen, niemals blöd sein. Identifizieren, interpretieren, korrigieren, kritisieren.

In den Augen meines Publikums bin ich Ikone und Schlampe zugleich. Aus den Fenstern mancher Hotels sehe ich an den Kiosken mich selbst. Bin ich das oder meine Doppelgängerin? Wer war da beim Foto-Shooting noch vor drei Tagen in Mailand, während ich heute schon wieder in Los Angeles auf Nachrichten von meiner Agentin warte? Ist das Heidi 2?

Wer saß Modell für elegante Bustiers, während Leni im Nachbarstudio nach Milch verlangte? Bin ich das wirklich auf den Titelblättern, die ihren Freund im Arm hält, oder lag ich derweil im Bett und träumte davon, wer Heidi Klum wirklich ist? Kann ich gleichzeitig überall präsent sein, weil parallel Hunderte Redakteure mein Gesicht und meine Figur für ihre Produkte gebrauchen? Heidi 2 ist das Abziehbild, der Avatar, die perfekte Täuschung, das Falsifikat für ein Publikum weltweit.

Während sie arbeitet, habe ich Zeit, über einen Traum zu reden, der immer wieder so beginnt: Es war einmal eine Paillettennäherin, die nicht wusste, wer sie war. Sie war sehr jung, handwerklich geschickt, hatte ein gestalterisches Talent und wollte als Modedesignerin die Welt erobern. Doch es kam alles ganz anders.

Quelle Text und Foto: (c) DIE ZEIT 25.11.2004 Nr.49
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Marc Kayser im Gespräch mit dem Politiker Gregor Gysi, der ihm für DIE ZEIT erzählte, dass er oft davon träumen würde, sein Leben aus der Perspektive einer Frau zu sehen

Marc Kayser zählt zu den begehrtesten Interviewern Deutschlands.

Handelsblatt, Düsseldorf

Ehrungen

Italienischer Umwelt-Journalistenpreis 2002 für seine Vorort- Reportage über den Ausbruch des Ätna – „Fasziniert vom Feuer“, erschienen in Die Zeit

Lead-Award für das Kunstmagazin „Qvest“ „Bestes Magazin der Jahre 2003 und 2005“

Literaturpreis eines Stadtschreibers, Kurt-Tucholsky-Museum, Rheinsberg 2013

Lehre

1. Oktober 2022 an unterrichtete er bis Februar 2024 in Berlin als Lehrbeauftragter an der Hochschule Macromedia, University of Applied Sciences, die Fächer „International Journalism“ und „Innovative Konzepte im Journalismus“, an der iu University of Applied Sciences im Fach Presse- und Medienstrategien.

Interviews und Kritiken

Kritik der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung

Kritik der Magdeburger Volksstimme

Interview DIE ZEIT

Kritik der Märkischen Allgemeinen Zeitung

Meine Werke für DIE ZEIT

Darüber hinaus gab es Auftritte und Berichte über Kaysers Arbeiten im Radio, in der MDR-Talkshow Riverboat, MDR um 11, der RBB-Sendung „zibb“, NDR Nordmagazin und Interviews in weiteren nationalen und internationalen Zeitungen.

Zusammengefasst (vgl. diverse Veröffentlichungen, Wikipedia, Senderverbund ARD)

Marc Kayser ist Medienberater, Kommunikationsstratrege, Universitätsdozent und schreibt gelegentlich auch Bücher. Seit Februar 2024 berät er die BSW-Vorsitzende und Bundestagsabgeordnete Dr. Sahra Wagenknecht in Fragen der Corporate Communications, zu Medienstrategien und Medienformaten.
Derzeit moderiert und produziert Marc Kayser den Videopodcast „Sahra trifft…“ gemeinsam mit der BSW-Gruppe im Bundestag.

Interviewer Marc Kayser mit Sahra Wagenknecht bei der Aufzeichnung des Talks „Sahra trifft…“ im April 2024

In den Jahren zuvor arbeitete er für überregionale Tageszeitungen wie BILD München, Süddeutsche Zeitung, DIE ZEIT, Weltwoche Schweiz, sowie internationale Magazine und für verschiedene Fernsehsender wie ARD und RTL. Er coachte Manager, Politiker und Künstler. Er war Mitbegründer und Chefredakteur des Kunst- und Designmagazins Qvest.

2012 verpflichtete ihn die Stadt Rheinsberg als Stipendiat und Stadtschreiber. Von 2013 bis 2016 war er als Autor und Redaktionsberater bei Hubert Burda Media unter Vertrag. Danach arbeitete er zwei Jahre lang als PR Berater im Berliner Politik- und Wirtschaftsbetrieb.

Seit 2008 erschienen insgesamt zehn Romane und Sachbücher. In seinen Krimis verarbeitet Kayser oft geheimdienstliche Verwerfungen und rechtsnationale Auswüchse, wie zuletzt in „Der Schatten aus dem Ramper Moor“, wo er sich mit Neonazi-Tendenzen und demokratiefeindlichen Vereinigungen auseinandersetzt. Zwei seiner Romane beschäftigen sich zudem mit Tätern von krimineller, sexueller Gewalt.
Zu seinen bekanntesten Zitaten gehört der Aphorimus: Glück hat der, der Glück erkennt.

Wenn Marc Kayser etwas schreibt, dann stimmt es auch.

Karl Lagerfeld ( † 2019), in der ARD-Sendung „Beckmann“

„Ich habe einen Traum“ – Marc Kayser im Interview mit Sahra Wagenknecht (Oktober 2000)

Sahra Wagenknecht, damals 31, studierte in Jena, Berlin und Groningen Philosophie und Neuere Deutsche Literatur. Sie dissertierte über die ökonomische Lehre von Karl Marx. Hier träumt sie träumt von einer Begegnung mit einem Zeitreisenden.

Er war Geschichtsstudent und als einer der ersten Menschen in den Genuss einer sensationellen Neuentdeckung gekommen: der Möglichkeit, die Vergangenheit zu besichtigen. „Ich habe mir das Jahr 2000 ausgesucht, weil ich die seltsamen Jahrzehnte vor und nach diesem Datum in meinen Vorlesungen nie verstanden habe.“ – „Aha“, sagte ich nochmals und mühte mich um Fassung. „Erzählen Sie mir etwas über Ihre Zeit“, bat ich aufgeregt. „Gern“, antwortete er. „Aber lassen Sie uns woanders hingehen. Ich weiß jetzt, was unser Dozent für Kulturgeschichte mit seiner These meinte, dass ein ganzes Jahrhundert Beethoven nicht spielen konnte.“ Sein schönes Gesicht verzog sich, als litte er unter akutem Zahnschmerz. Also verließen wir eilig das Konzerthaus und setzten uns in ein Café.

„Ist das Ihre erste Reise in die Geschichte?“, fragte ich ihn. „Meine erste und einzige, und heute ist mein letzter Tag“, antwortete er. „Warum ausgerechnet unsere Zeit?“, erkundigte ich mich, „Cäsar hätte Sie nicht interessiert?“ – „Oh doch“, sagte er. „Aber Cäsar konnte ich begreifen. Außerdem haben uns die Römer vieles hinterlassen: Torbögen, Brücken, Skulpturen, philosophische Thesen. Da konnte man sich ein Bild machen. Aus dem zwanzigsten Jahrhundert ist fast nichts übrig geblieben: kein Haus, keine Vase, keine Philosophie, dafür aber eindrucksvolle technische Erfindungen, die auch wir noch nutzen. Aber offenbar wisst ihr nichts damit anzufangen. Was ihr produziert, produziert ihr so, dass es schnell wieder zerfällt. In euren wirtschaftlichen Entscheidungen lasst ihr euch von Zufallsfolgen sinnloser Zahlen leiten wie die alten Griechen vom Orakel. Ihr baut uniforme, stupide Städte, die noch hässlicher sind, als ich sie mir nach Bildern vorgestellt hatte. Wussten Sie eigentlich, dass der düstere Koloss, den Ihre Regierung gerade als Kanzleramtssitz bauen lässt, später als Gefängnis genutzt wurde?“ Ich war ganz schön sprachlos. „Und sieht er nicht ganz so aus, als habe der Architekt das von vornherein im Auge gehabt?“, schob er unerbittlich nach.

„Wie sehen denn die Städte bei Ihnen aus?“, unterbrach ich seinen wenig schmeichelhaften Redefluss. „Unsere Städte sind keine bombastischen Metropolen“, antwortete er. „Viele Siedlungen bestimmen einen großen Raum. Ein Haus sieht natürlich anders aus als jedes andere, denn es wohnen ja in jedem Haus andere Menschen mit anderen Wünschen, Vorlieben und Eigenarten. Bevor ein Haus gebaut wird, setzen sich die Leute, die einziehen wollen, zusammen und entwerfen gemeinsam mit einem Architekten einen Bauplan.“ – „Ein individuell gestaltetes Haus, kann sich das denn jeder leisten?“, fragte ich ungläubig. „Wieso leisten?“, entgegnete er, „wir haben doch Zeit.“

„Ich meine nicht zeitlich, ich meine finanziell“, erläuterte ich. „Da seid ihr wieder mit eurer Irrationalität!“, rief er brüsk. „Was ist denn Geld anderes als der Widerschein des mit bestimmtem Zeitaufwand Produzierbaren? Hohe Produktivität enthebt uns der leidigen Frage, entweder für wenige Leute wenige Dinge in guter Qualität oder für viele Leute viel normierten, naturunverträglichen Billigkram zu produzieren. Weshalb ihr das nicht begreifen wolltet, sondern fortfuhrt, die Welt zu vermüllen, auch als ihr längst in der Lage wart, Gutes und Edles in hinreichender Zahl zu erzeugen, das habe ich nie verstanden.“

Er sah mich mit großen, fragenden Augen an. Aber ich war viel zu neugierig, etwas über seine Zeit zu erfahren, als dass ich Lust gehabt hätte, ihm unsere zu erklären. „Wie seid ihr politisch organisiert?“, bohrte ich, „Wer trifft die gesellschaftlichen Entscheidungen?“ – „Diejenigen, die sie betreffen. Alle kleineren Sachen werden vor Ort geregelt, kommunal. In Berlin gab es kürzlich eine größere Debatte, ob wir ein neues Werk für elektronische Gebrauchsgüter oder lieber ein schöneres Theater bauen. Ich gehörte zu den Theaterbefürwortern. In einer langen Diskussion wurde das Für und Wider erwogen. Beim Entscheid der Stadtbevölkerung hat unsere Position dann die Mehrheit gewonnen.“ Er lächelte zufrieden.

„Regelt ihr alles über Plebiszite?“, wollte ich wissen. „Nein, das wäre doch zu umständlich“, erklärte er. „Es gibt natürlich auf allen Ebenen auch gewählte Vertretungen.“ – „Und Parteien?“, fragte ich. „So etwas Ähnliches“, erläuterte er. „Für konkrete Programme und Projekte bilden sich Vereinigungen, die mit ihren Konzepten konkurrieren. Über Wahlen wird dann der mehrheitlich gewünschte Trend ermittelt.“ – „Also eine Art Parlamentarismus?“ – „Wir nennen es so nicht. Die Menschen, die bei uns in den Kammern sitzen, bleiben dort maximal acht Jahre. Sie sind nicht das, was man bei Ihnen Berufspolitiker nennt, sondern normale Leute aus allen Berufen, in die sie dann auch zurückkehren. Auch die Vereinigungen verändern sich bei uns viel öfter: lösen sich auf, bilden sich neu. Neben den gewählten Kammern gibt es übrigens Räte der Alten und Weisen. In sie werden – auf Lebenszeit – angesehene Senioren gewählt: herausragende Wissenschaftler, Dichter, bedeutende Erfinder. Sie haben nur beratende Funktion, aber ihr Rat wiegt schwer.“

Wir schwiegen. Ihm zu folgen fiel mir zwar leicht, aber er forderte mich ganz schön. Er nahm den Gesprächsfaden wieder auf: „Vor allem unterscheidet sich unser System von eurem dadurch, dass unsere Kammern tatsächliche Macht haben: Sie sind befugt, alle für ihren Kompetenzbereich relevanten Entscheidungen zu fällen.“ – „Also auch wirtschaftliche Entscheidungen?“, hakte ich nach. – „Ja, sicher. Die Ergebnisse solcher Entscheidungen betreffen doch die Bevölkerung. Grundsatzfragen müssen überdies im Volksentscheid bestätigt werden. Ökonomische Detailfragen werden natürlich von den Beschäftigten in den Betrieben entschieden.“

„Nach welchen Kriterien?“, wollte ich wissen. – „Danach, was die Verbraucher haben wollen. Bei vielen langlebigen Gütern läuft es ähnlich wie bei den Häusern: Man bestellt nicht einfach irgendwelche produzierten Sachen, sondern gestaltet sie nach eigenen Wünschen, bevor sie produziert werden. Kein Betrieb hat deshalb mehr ein Interesse daran, den Leuten irgendwelche Moden aufzuschwatzen.“

„Kann jeder so viel bestellen, wie er will?“, möchte ich wissen. Er lacht. „Nein, das Schlaraffenland haben wir nun noch nicht. Der individuelle Zugriff ist schon durch Geld limitiert. Aber wir haben so viel zu verteilen, dass jeder reichlich bekommt. Auch deshalb, weil wir all den anderen Unsinn, den Ihre Zeit mit Geld anstellt, rigoros abgeschafft haben.“ – „Wie meinen Sie das?“, fragte ich, obwohl ich ahnte, worauf er hinauswollte. „Wissen Sie“, antwortete er, „ich war in London, New York und Frankfurt und habe mir Ihre Glücksritter bei der Arbeit angesehen.“ Seine Stimme bekam einen angewiderten Beiklang. „Es gibt ja bei uns auch noch ein paar Spielhäuser“, räumte er ein. „Sie sind nicht sehr angesehen, aber ihre Schließung hat doch nie eine Mehrheit gefunden. Also blieben sie stehen, und wer will, kann hingehen. Wahrscheinlich hat es Glücksspiel immer gegeben. Aber dass eine Gesellschaft die wichtigsten Entscheidungen ihres ökonomischen Lebens nach den obskuren Vorgaben eines Spielkasinos fällt, dass sie technische Anlagen stilllegt oder weiterbetreibt, Menschen in Arbeit bringt oder auf die Straße wirft, Erfindungen umsetzt oder in den Schubladen belässt, alles abhängig davon, ob die lächerliche Roulettekugel der Kurstabellen ‚hoch‘ oder ’niedrig‘, ’steigend‘ oder ‚fallend‘ anzeigt, das war es, was ich mit eigenen Augen sehen wollte, weil ich es nicht glauben konnte …“

Während ich versuchte, meine Gedanken zu ordnen, fuhr er unerbittlich fort: „Ich finde, was am meisten gegen eure Zeit spricht, ist ihre Verlogenheit. Sie schmückt sich mit schönen Titeln, die sie alle nicht verdient. Sie nennt sich frei, aber selten waren Menschen enger in unbarmherzige Zwänge eingeschnürt. Sie preist die Individualität – und produziert Uniformität ohne Ende. Sie nennt sich eine Überflussgesellschaft, was allenfalls insofern stimmt, als sie viel Überflüssiges produziert. Aber sie produziert nicht zu viel, sondern zu wenig wirklichen Reichtum. Das ist mir überhaupt aufgefallen, es ist wahrscheinlich nie in der Geschichte so viel produziert und so wenig genossen worden wie zu Ihrer Zeit. Die Leute haben verlernt zu genießen. Wie kann man in Lokalen ohne jeden Charme Chemienahrung aus Wegwerfbechern essen?“

Er meinte McDonald’s, nahm ich an. Ich ließ ihn weiterreden. Er schaute an sich herunter. „Ich habe abgenommen, seit ich hier bin. Es ist so schwer, gutes Essen zu finden. Sicher haben sie auch erstklassige Restaurants. Aber sie verschwinden in einem Meer von schlechten.“ – „Wie und was isst man denn bei Ihnen so?“, fragte ich interessiert. „Köche sind bei uns einer der geachtetsten und bestbezahlten Berufsstände“, erklärte er mir. „Man hat eingesehen, dass Kochen ebenso Profession ist wie das Erstellen von Computersoftware. Also überlassen wir es weitgehend den Fachleuten. Wir finanzieren unseren Köchen eine gute Ausbildung. Die Regeln, die erfüllt sein müssen, ehe einer seine Gerichte öffentlich anbieten darf, sind streng. Schlechtes Essen würden die Leute bei uns nicht durchgehen lassen. Ich glaube“, sagte er nach kurzer Überlegung, „die Essgewohnheiten eines Jahrhunderts sagen einiges über seinen Charakter aus. Bei euch ist der Begriff des Genusses auch sprachlich weitgehend verschwunden. Allenfalls wünscht ihr euch gegenseitig Spaß. Aber Spaß ist viel oberflächlicher als Genuss. Zumal ich den Eindruck habe, dass Konsumieren für die meisten nicht einmal mehr Spaß bedeutet, sondern Stress. Man kauft nicht, weil man die Dinge braucht oder Gefallen daran findet. Allein seit dieser neurotische Kaufzwang wegfiel, hatten wir plötzlich unglaublich viel Zeit und Ressourcen für die wichtigen Dinge frei.

Apropos Zeit …“ Er schaute auf die Uhr. „Oh Gott, ich muss mich für die Rückkehr fertig machen. Heute war mein letzter Abend bei euch.“ – „Darf ich eine letzte Frage stellen?“, bat ich ihn. Er nickte freundlich. „Welche Fragen würden Sie der Generation stellen, die heute zwischen 20 und 40 Jahre alt ist?“ Er dachte kurz nach. Dann antwortete er: „Warum verschließt ihr euch Veränderungen, die auf der Hand liegen? Warum gebt ihr wenigen Leuten die Macht, die Lebensqualität vieler zu bestimmen und oft genug zu zerstören? Warum produziert ihr mit euren enormen technologischen Möglichkeiten so unvorstellbar viel Schrott, und warum duldet ihr nach wie vor so grauenvolle Armut? Wieso gestaltet ihr euer Leben so abstrus, so irrational, so oberflächlich, wo ihr doch wisst, dass ihr nur einmal lebt?

Quelle Text: (c) DIE ZEIT Oktober 2000 Nr.41 Foto: DIE ZEIT 2023 


Es gibt keine Antwort. Es wird keine Antwort geben. Es hat niemals eine Antwort gegeben. Das ist die Antwort.

Gertrude Stein (Schriftstellerin, Verlegerin, Kunstsammlerin, Salondame, Jüdin, Freundin Picassos und Hemingways, lesbisch, toll (!) † 1946 bei Paris)

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Marc Kayser bei einem Interview im deutschen Fernsehen

Schulmeister meines Lebens

Christenlehre bei Don Camillo (aus DIE ZEIT)

Von Marc Kayser

Ich erlebte einen Ostseesturm, der gurgelnde, tonnenschwere Wassermassen auf das Vordeck des Schiffes trieb und in dem nur der nicht über Bord zu gehen drohte, der sich ordentlich festgeseilt hatte. Ich war Decksmatrose und hatte Nachtdienst. Ich hatte Angst, ganz klar; das Licht war ausgefallen, und die Maschinen stampften, als wär’s ihre letzte Arbeit. Selbst der Kapitän war sich nicht mehr sicher, wohin wir in der Dunkelheit gerade trieben, denn der alte Kahn hatte noch kein Radar an Bord. Da fiel mir Pfarrer Malzow ein, und wie er davon erzählte, dass Thomas, einer der Jünger Jesu, einen Ausweg suchte, weil er spürte, dass sich die Schlinge um Jesus langsam zuzog. Thomas hatte gefragt: „Wie können wir den Weg wissen?“ Und Jesus antwortete: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.“ In Gummimantel, Gummihosen, Gummistiefeln und mit einem Südwester auf dem Kopf faltete ich die Hände, betete – und erinnerte mich.

Pfarrer Herbert Malzow war ein kluger Mann, der wusste, dass man einem 12-Jährigen kein X für ein U vormachen konnte. Kam es also immer mal wieder bei der Christenlehre auf den Satz von Jesus: „Niemand kommt zum Vater, denn durch mich“, rief ich stets erheitert: „Ich schon!“ Er hatte mich dann immer freundlich angesehen mit seinen warmen, braunen Augen und gesagt: „Ich weiß, Marc, du willst mal Kosmonaut werden.“

In meinem Heimatort in Mecklenburg zur Christenlehre zu gehen bedeutete, man wechselte einfach das Gebäude, ging aber dennoch weiter zur Schule und erhielt Unterricht. Pfarrer Malzow, der also einmal pro Woche für mich zum Lehrer wurde, prägte im Dorf den Begriff einer „Schule des Glaubens“. Er setzte diese Idee einfach durch beim SED-Bürgermeister, der das Vorhaben anfangs beschmollte, es aber dann doch prima fand, weil er die Filme mit Don Camillo und Peppone gesehen – und sich in sie verliebt hatte. Der Kommunist Peppone, Bürgermeister eines kleinen italienischen Dorfes, der sich der Bauernschläue und Christenstärke Don Camillos kaum erwehren kann, aber dennoch das eine oder andere Mal trotz seiner stalinistischen Ansichten obsiegt: Das gefiel dem (ost)deutschen Bürgermeister, machte ihn stark in seiner Entscheidung, Pfarrer Malzow einen Lehrerstatus zu verleihen und ein paar Kinder zu überlassen. Malzow kannte die Filme und mochte sie auch, aber aus anderem Grund: Es waren für ihn Pyrrhussiege, die Peppone errang.

Panzeroffizier, Russlandfeldzug, traumatische Erlebnisse: Herbert Malzow trug eine Last, die andere ihm aufbürdeten. Von diesen Kriegserlebnissen geschockt, studierte er Theologie in der DDR. Nicht einfach für mich Heranwachsenden – der Spagat zwischen dem Kapital von Marx und dem Evangelium des Johannes. Malzow erkannte den Konflikt und löste ihn auf seine Weise: Wir sollten eine Krippe bauen und hineintun, was uns beschäftigte und gefiel. Am Ende war es ein Triptychon, präsentiert auf dem Altar zu Weihnachten: Matchbox-Autos, Fahnenmaste, Lämmer, Stroh, Kondensatoren, Schulbuchdeckel auf der linken Seite. Glühbirnendrähte, die drei Könige, eine Siebziger-Jahre-Brille, ein Modell des Mondfahrzeugs Lunochod und eine Wiege in der Mitte. Ein paar Gitarrensaiten, Kerzen, die amerikanische Fahne im Miniformat, ein bisschen Sand vom Friedhof und eine Schale Wasser aus dem „Brunnen des gefallenen sowjetischen Soldaten“ rechts von allem. Die Gemeinde zeigte Zurückhaltung, der Bürgermeister blieb dem fern.

Als mein bester Lehrer starb, war ich 18, und statt in den Kosmos zu fliegen, war ich ebenjener Matrose auf einem Schiff in der Ostsee. Ich führte das Schiffstagebuch und schrieb hinein, was der Kapitän befahl, wann Maschinisten den Diesel reparierten, wo uns mal ein Wind schlimm erwischte und warum wir alle an den Klabautermann glaubten – und nicht an Gott. In diesen Tagen ging es mir nicht gut. „Hat mich Pfarrer Malzow verlassen, weil ich ihn verlassen habe?“, fragte ich mich im Tagebuch, aber fand keine Antwort. Als ich die DDR vor dem Mauerfall verließ und auf dem Bahnhof Friedrichstraße die Grenzkontrollen passierte, dachte ich an meinen Pfarrer, an die Krippe und den Sturm. Als ich drei Tage später in München zum ersten Mal Obdachlose und Junkies sah, dachte ich an Marx und das Kapital.

Nochmals die freundliche Anmerkung: keine der Fotos dürfen ohne meine Genehmigung oder derjenigen Personen, die abgebildet sind, anderweitig verwendet werden!

Fotos: Nikola Kuzmanic, Uwe Tölle, privat, Superillu, BUNTE, DIE ZEIT, Süddeutsche Zeitung, rbb, ARD